Sisyphus überlistet den Tod
König Sisyphus’ Zeit war gekommen, er sollte sterben. So war es von Gottvater Zeus bestimmt worden. Deshalb wurde er von Thanatos, dem Tod, heimgesucht. Dem mächtigen Sisyphus gefiel das jedoch gar nicht. Also nahm er kurzerhand all seine Schläue zusammen und trickste den Tod aus. Er beschloss, „lebensverlängernde Maßnahmen“ einzuleiten, und bediente sich hierbei des Alkohols, indem er den ahnungslosen Tod zum Schnapstrinken verführte. So kam es, dass der Tod zum ersten Mal in seinem Dasein Schnaps trank. Viel Schnaps. Ausgerechnet der Tod, der als sattvisches Wesen bis dahin noch nie auch nur die geringste Menge an Alkohol angerührt hatte! Und es hätte wahrlich nicht viel gefehlt, und er wäre an einer Alkoholvergiftung verstorben – wäre er als Tod nicht grundsätzlich vom Sterben befreit. Der so wehrlose und betrunkene Thanatos wurde von Sisyphus mit mächtigen Eisenketten gefesselt und als lallendender und torkelnder Gefangener in das tiefste Verlies gesperrt, das Sisyphus in seinem Reich finden konnte.
Dass dieses Kidnapping im weiteren Verlauf zu erheblichen Problemen führte, kann man sich denken: Der arme Tod war gefesselt und wurde an der Ausübung seiner wichtigen Arbeit gehindert, wodurch die natürlichen Sterbeprozesse in der Welt vollständig zum Erliegen kamen. Da nichts und niemand mehr sterben konnte, dauerte es nicht lange, und die Erde stöhnte unter der Last einer bedrohlich anschwellenden Überbevölkerung. Die Götter waren alarmiert, denn die Welt drohte ihr Gleichgewicht zu verlieren.
Das Katz-und-Maus-Spiel von Sisyphus mit dem Tod ging übrigens noch weiter. Doch irgendwann muss es der schlaue Sisyphus so sehr auf die Spitze getrieben haben, dass ihn die Götter strafend jener karmischen Bürde zuführten, die ihn schließlich zu der Bedeutungsgestalt schmiedete und zu dem Bilde schuf, das uns bis heute noch bekannt ist. Deshalb wird die Geschichte von Sisyphus, der sich zu sterben weigerte und deshalb zu seiner Sisyphusarbeit verdammt wurde, noch heute erzählt. Denn die Geschichte von Sisyphus möchte sich noch immer in dir und mir, in der Welt, erlösen. Und wir ahnen schon: Der Schatten des Sisyphus ist heute mächtiger denn je.
Kann Yoga dem Sterbe-Verweigerer helfen?
Jetzt könnten wir natürlich aus den unterschiedlichsten Gründen heraus mit den Mitteln des Yoga herangehen und den Sisyphus bei seiner Sisyphusarbeit yoga-sportlich coachen, und ihm z.B. kräftigende Übungen aus dem Yoga verabreichen. Wir könnten ihm sogar Yoga-Entspannung beibringen, Übungen zur Stressreduktion, eine anatomisch korrekte Haltung bei der Arbeit, die richtige pranische Atmung, oder ihm etwas mehr meditative Achtsamkeit bzw. Feinheit beim Rollen und Stemmen seines Felsblocks vermitteln. All dies wird ihm sicherlich bei seiner Arbeit helfen und ihm eine gewisse Erleichterung verschaffen.
Aber was der Sisyphus in uns wirklich lernen möchte, in der Tiefe seines Wesens, ist das hingebungsvolle Sterben – das Loslassen. Es ist die tiefe Angst unseres durch Sinneseindrücke an die vergängliche Welt gebundenen Verstandes vor dem Tod, die durch den Schmerz des Sisyphus erlöst, aber auch erforscht werden möchte. Unser Verstand hat höllische Angst vor dem Sterben, da er das Unsterbliche als das unfassbar Ewige nicht kennt. Er kann es weder spüren noch vermittels seiner Logik zum „Ver-stehen“ bringen. Deshalb weigert er sich mit Händen und „Physen“ von dem, was wir als unser ewiges Wesen nicht sind, loszulassen. Dieser ängstliche Verstand ist als unser „Ich-Macher“ ein Produkt und ein Instrument der unteren Dimensionen der Schöpfung.
Erschaffen wir unsere Welt vermittels unseres sisyphuistischen Verstandes aus den unteren Dimensionen der Schöpfung heraus, die maßgeblich von den Gunas Rajas und Tamas beherrscht sind, dann sind wir an all unser Erschaffenes in einer karmischen Schleife gebunden wie Sisyphus an seinen Felsblock. Unsere Schöpfung ist angefüllt mit materieller Gier, Leidenschaft, Unwissenheit, Bewertung, Berechnung, Hyperaktivität, Egoismus, Destruktivität, Angst und Machthunger. Hier sind wir in unserer Schöpfung ganz auf unsere Früchte fixiert. Wie Sisyphus „kleben“ wir regelrecht an unseren Geschöpfen, da wir sie durch Kleshas, durch „schmerzverursachende Klebekräfte“, erschaffen haben. Erlösen können wir uns daraus erst, wenn wir bereit sind, durch ein sattvisches Leben von unseren Früchten (den guten wie den schlechten), mit denen wir uns identifizieren, loszulassen.
Wenn wir unsere Welt aus Gott als dem Lebe- und Liebewesen in uns erschaffen, so ist unser Erschaffenes frei von Anhaftung. Der Mensch führt jetzt ein sattvisches Leben. Hier gibt es niemanden, der das Erschaffene als gut oder schlecht bewertet oder es sich zu seinem Vorteil oder Nachteil berechnet bzw. zunutze macht, oder den Früchten anhaftet. Wir haben uns in unserem lichtvollen Handeln ganz dem Gottwesen in uns übergeben und dürfen zum Wohle aller Wesen wirken.