Als die kluge Else in den Keller zum Bierzapfen geschickt wurde, konnte noch niemand ahnen, was für ein Drama sich daraus entwickeln würde. Im Grimm’schen Märchen war der Hans zu Besuch im elterlichen Bauernhaus. Sie sollten sich bei einem Bier erst mal kennenlernen und dann vielleicht heiraten. Als die Else beim Füllen der Bierkrüge zum Zeitvertreib den Blick im Kellergewölbe umherwandern ließ, fiel ihr eine spitzige, rostige Maurerkelle auf, die ein ganzes Stück oberhalb vom Fass auf einem Vorsprung der Kellerwand bedrohlich auf der Kippe lag. Jemand musste sie vor Jahren bei Maurerarbeiten dort vergessen haben. Diese Beobachtung stürzte die Else in eine tiefe psychische Krise. Denn, so spann sie unter einem plötzlichen Ausbruch von Besorgnis, Verzweiflung, Schluchzen und Tränen: „Wenn ich den Hans heirate und wir ein Kind bekommen, und das Kind älter wird, und es zum Bierzapfen in den Keller geschickt wird, und ihm dabei die Maurerkelle auf den Kopf fällt – ojemine, was dann Schlimmes passieren könnte!“

Die derweil oben am Tisch Sitzenden und auf das Bier Wartenden wunderten sich, wo die Else nur blieb. Und so gingen nacheinander erst die Magd, dann der Knecht, dann die Mutter, und schließlich der Vater in den Keller, um nach der Else zu sehen. Doch wer immer nach unten zu ihr stieg, kam nicht mehr zurück. Am Schluss saß der verwunderte Hans ganz allein am Tisch, ohne Bier und durstig. Also beschloss auch er, nach dem Rechten zu sehen. Unten im Keller angekommen, bot sich ihm ein Trauerspiel. Alle schluchzten, heulten und jammerten, denn die Else hatte sie vom schrecklichen Bedrohungsszenario überzeugt und mit ihrer emotionalen Besorgnis angesteckt. Als der Hans den Grund dafür erfuhr, sprach er: „Ei, ist die Else klug! Die will ich heiraten!“ Und so geschah es.

Der erste Teil des Märchens Die kluge Else veranschaulicht die Funktionsweise des „klugen“ menschlichen Verstandes (Manas), der die Tendenz hat, sorgenvolle Bedrohungsszenarien in die Zukunft zu projizieren, befeuert von eigenen Vasanas und Samskaras, den meist unterbewussten Eindrücken, Vorstellungen und Erfahrungen, die über unzählige Verkörperungen (Inkarnationen) angesammelt wurden und in inneren karmischen Depots gut abgehangen lagern. Wird ein solches Samskara getriggert (Maurerkelle), kann der Verstand die komplexesten – heutzutage auch computergestützten – Wahrscheinlichkeitsmodelle entwickeln. So entstehen auf der unschuldigen Leinwand des Gegenwärtigen fesselnde Horrorszenarien möglicher Bedrohungserwartungen in der Zukunft, die den Menschen mit sentimentaler Wucht aus der Verankerung der Gegenwart reißen und ihn sein wahres, zeitloses Wesen (Atman) vergessen lassen. Doch nur das wahre, zeitlose Wesen besitzt die Kapazität der unerschöpflichen Weisheit, die es uns Menschen durch überbewusste Intuition (Buddhi) zukommen lässt. Verankert in dieser Präsenz, können wir mit jedwedem Geschehen der Gegenwart vertrauensvoll gütlich sein, es heilen und Frieden darin finden. Ohne den Zugang zur Buddhi ist das manasische Ich, das seine Vorstellungswelt nicht aufgeben möchte, jedoch gezwungen, vorzusorgen und sich abzusichern. Es gibt sich frühzeitig den eigenen Sorgenprojektionen hin, indem es entweder, wie die kluge Else im Märchen, durch Verzweiflung eine sentimentale Lähmung erfährt und in einem Meer von Tränen der Betroffenheit auf dem Kellerboden „festzukleben“ droht wie Klimakleber auf dem Asphalt, oder indem es eine verstandeslogische Krisenvorsorge betreibt, z.B. einen Schutzhelm für Kinder erfindet, die in den Keller müssen, um Bier zu zapfen, damit ihnen eine möglicherweise herabfallende Maurerkelle nicht den Kopf spaltet.

Der menschliche Verstand, als eine sich vom wahren Leben abspaltende Instanz, wird ständig von solchen Szenarien getriggert: ob Weltuntergang, Klimawandel, Sonnenstürme, Seuchen, Krankheiten, Kriegsgefahr, Blackout, Finanzkrise, Arbeitslosigkeit etc. Bei all diesen großen Themen, die in rhythmischen Zyklen immer wieder am Horizont des Schicksals auftauchen, ist für jeden Sorgentypus etwas zum „Preppen“ (von engl. prepare = sich vorbereiten) dabei. Nur merkt ein von Sorgen befallenes Gemüt nicht, dass die Sorgenkraft auch ein mächtiges Instrument negativer Schöpferkraft ist und durch seinen stetigen Sorgenfluss mit der Zeit genau das erschaffen kann, wovor es sich am meisten fürchtet. Tritt das befürchtete „Weltuntergangsereignis“ dann ein, kann es selbstbestätigend sagen: „Ich hab’s ja immer gewusst“, dabei in seinem Schutzbunker eingesperrt die Dosensuppe auslöffeln und auf bessere Zeiten hoffen.

Es ist ja bei alledem nicht so, dass sich der yogische Mensch nicht auf Krisen vorbereiten würde. Ganz im Gegenteil: Der Weg des inneren Yoga ermächtigt den Menschen sogar zur Krisenmeisterschaft. Denn das innere Wissen des Yoga enthüllt die Erkenntnis, was dem Prinzip jedweder Krise zugrunde liegt, und vermag diese damit aufzulösen. Das Geheimnis liegt in der Bedeutung des altgriechischen Wortes krisis verborgen, das „Ent-scheidung“ heißt und spirituell gelesen das „Ende des Scheidens“ bedeutet. Wenn das Scheiden, Polarisieren und Spalten durch die falsche Identifikation mit dem Ich endet, kann der Mensch in einem identitären Akt des Verschmelzens mit seinem Wesen (Atman) wieder eins sein und damit das sein, was er in Wirklichkeit ist. Das, was zu Krisen und Konflikten geführt, die Fronten verhärtet und zu scheinbar unüberwindbaren Unvereinbarkeiten geführt hat, darf sich wieder in das Ganze einfügen, und sich damit als „gegenstandslos“ auflösen.

Die yogische Vorbereitung besteht deshalb aus dem frühzeitigen Erlernen der Kunst des Sterbens bzw. Loslassens. Der Yogi erforscht die Konstrukte, Überlagerungen und rechthaberischen Wahnvorstellungen (Maya) seines Ichs, die sein wahres, ewiges Wesen verhüllen und die Welt getrennt von ihm als „Um-welt“, die Lebewesen als Objekte und die Schöpfung als Minengeschäft betrachten. Im Sterbeprozess eines identitären „Überlaufens“ vom „Werden“ zum „Sein“, kann er nun ohne Netz und doppelten Boden das sein, was er in Wirklichkeit ist – Sein, Bewusstsein, Fülle.

Wer würde so in sich ruhend und dies in allem sehend noch der (Vor)-Sorge vor Mangel und Verlust auf den Leim gehen, und damit den ewig wandelnden Fluss der Schöpfung aufhalten wollen?

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