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Yoga

Yoga in der Raum-Zeit

Yoga hat viele Gesichter. Sein äußerstes Gesicht wird gerne und marktkonform als „Trendsportart“ bezeichnet – seine innerste Gestalt als heiliger Erleuchtungsweg. Wie groß müsste ein Vogel sein, um diese ganze Bandbreite mit seinen Flügeln zu umspannen? Wie weitreichend sein Flügelschlag, um sowohl den Sportler als auch den Erleuchteten mit seinen Schwingen zu berühren? Ganz zu schweigen von den unzähligen Zwischentönen, die in den heilenden Gesang einstimmen.

Als der Gesang des Yoga einst dem Menschen auf die Erde überbracht wurde, herrschte eine völlig andere Raum-Zeit. So gänzlich verschieden zu heute, dass der materielle Mensch davon nichts ahnt, und der wissende davon nichts wissen will. Wann immer es jedoch um ursprüngliche Zeugungen geht, ist es verlorene Liebesmühe, den Logiker um Rat zu fragen. Hier bietet sich vielmehr der Welten-Mythos als liebender Diener an, der die Erfahrungen der Schöpfung in seinen Geschichten durch seine Erinnerung bewahrt. Ihn kann man anrufen, wann immer religiöse Absolutisten und wissenschaftliche Materialisten aus der Dichte ihrer Begrenztheit die Ströme aus dem Ursprung verpfropfen.

Der Mythos der indischen Bhagavad-Gita erzählt uns, wie der Yoga zu den Menschen kam: Vom Weltengott unterwiesen, weihte die Sonnenmutter den Urmenschen Manu in die Geheimnisse des Yoga ein. Es geschah dies jedoch zu einer Raum-Zeit, die durch wissenschaftliche Logik nicht zu erfassen ist, und kündet von einer fernen Menschheit, die in keinem unserer Geschichtsbücher verzeichnet ist. Die Erdenatmosphäre zu jener Zeit unterschied sich sehr von der heutigen. Die Welt war gesättigt und erfüllt von Lebenskraft, von Prana, und der Urmensch weniger körperlich dicht im Vergleich zu heute. Die gesamte Physis war noch mehr aus feinem Geiststoff gebildet, lichter, leichter und beweglicher gewoben. Der Mensch, gerade auf die Erdenwelt gezeugt, wandelte noch gänzlich in liebender Verbundenheit mit seinem Schöpfer. Körper und Geist waren noch nicht durch Lüge voneinander getrennt, sondern, ähnlich wie bei einem Kleinkind, aus einem gebärdenzeugenden Guss.

Und so war jede Bewegung, jede Gebärde und jede Geste von einem heiligen Gebet, einem heiligen Tanz durchpulst. Diese Gebetshaltungen sind uns heute noch, nach so langer Zeit, als Asanas und als Mudras überliefert. In jedem Asana, das wir einnehmen, schwingt die Sehnsucht nach jener Urerfahrung mit. Mit jedem von Pranayama gebildeten Atemzug erinnern wir uns an das goldene Zeitalter des Prana, in dem der Mensch mit deutlich weniger Atemzügen ein Vielfaches an Lebenskraft aufnahm. Und in jeder Meditation verbinden wir uns mit der Urerfahrung des All-Verbundenseins mit der liebenden Schöpferquelle.

Dann veränderte sich das Raum-Zeitalter gemäß den großen Zyklen der Schöpfung. Die Materie verdichtete sich zunehmend, und das liebende Urlicht aus der allumfassenden Quelle wurde von den jetzt festeren Körpern mehr und mehr gebrochen oder gar aufgehalten. Der Schattenwurf nahm zu, und mit diesem wuchsen Getrenntsein, Unwissenheit und Dunkelheit. Das dunkle Zeitalter, das Kali-Yuga, breitete seinen Schatten über Erde und Menschheit aus. Die liebende Verbundenheit mit dem Schöpfer und das Handeln aus der einen lichtvollen Quelle gerieten unter die Räder von Trennung und Vergessenheit. Hass, Gier, Neid, Missgunst, Lügen und Täuschung gewannen Oberhand und nährten und erschufen fortan neue, menschengemachte Götter.

Nur wenige konnten im Verborgenen die Flamme des yogischen Geistes am Leben erhalten. Es waren dies die ehrbaren Feuerhüter, die stets bemüht waren, die heilige Flamme des Agni zu bewahren. Sie lebten weitab in den Bergen oder in der Unzugänglichkeit der Urwälder. Dort wachten sie ausdauernd über das kostbare ihnen anvertraute Gut, denn sie wussten, dass sich das Raum-Zeitalter wieder ändern würde.

Als schließlich in unserer jüngsten Vergangenheit die ersten zaghaften Strahlen der Morgenröte das Ende des Kali-Yuga und den Übergang in ein neues Zeitalter ankündigten, begannen die Feuerhüter damit, ihren Wissensschatz vorsichtig zu öffnen. Und so kam es, dass sich der yogische Geist seit einigen Jahrzehnten wieder über die Erde verbreiten darf.

Es ist der überaus großen Intelligenz und Geschicklichkeit des yogischen Geistes zuzuschreiben, dass Yoga sich mittlerweile weltweit einer solch enormen Anziehungskraft erfreut. Im Ursprung ein reiner Geist-Seins-Zustand, vermag Yoga mit seinen Körperübungen selbst dem am Materienwahn erblindeten zeitgenössischen Menschen die Hand zu reichen. Yoga bietet dazu dem körperfixierten Menschen all die notwendigen kompatiblen Adapter. Ja, er schenkt uns zu „Machern“ trainierten Geschöpfen sogar die Illusion, als ob man ihn „machen“ könnte. „Ich mache Yoga“ will aber eigentlich sagen: „Ich ahme Yoga nach“, weil aus der Tiefe unserer Wurzelerinnerung längst eine irrationale Sehnsucht nach einer Verbindung, einer Vereinigung mit unserer liebenden Schöpferquelle emporsteigt. Die „Nachahmung“ dient dazu lediglich als Vorstufe. Nicht umsonst scheint im Wort „nachahmen“ bereits „amen“ durch, von dem es nur noch ein Katzensprung zum „OM“ ist, dem heiligen Urklang der Schöpfung. Und so geschieht es, dass der körperorientierte Mensch, oftmals ohne es zu wissen, durch Nachahmen von aus dem Ursprung geschöpften Gebetshaltungen, die einst vollständig aus einem vergeistigten Seinszustand geboren wurden, wieder jene Urkräfte der Vergeistigung zu sich ruft und sie einlädt, an ihm zu arbeiten und ihn im Lichte zu transformieren.

Ist die Grenze der Nachahmung schließlich erreicht, bedarf es vielleicht nur noch eines kleinen Funken, um die schöpferische Flamme wieder zu entzünden. Jetzt tritt der Mensch aus der Dunkelkammer des Getrenntseins heraus und verbindet sich wieder mit dem Schöpfer.

Dies ist der feierliche Augenblick, in dem Manu, der liebende Urvatergeist des Menschen, in uns Gestalt annimmt und uns durch seine selbstverwirklichende Ordnung unserer wirklichen Seelenbestimmung zuführt.

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