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Komm, lass uns Sisyphus befreien

Der Sisyphuskult in der Wirtschaft
Fast unsere ganze Unternehmens- und Wirtschaftskultur basiert auf dem Prinzip des Sisyphuskults. Durch diese Kraft haben wir den ewigen Konsumenten in uns erschaffen, der der Wirtschaft schier grenzenloses Wachstum beschert. Die Unternehmen fördern und leben von immer wiederkehrenden Bewegungskreisläufen nimmersatter Wunschbefriedigung. Denn auch die endlosen Wunschketten materieller Bedürfnisse und Anhaftungen in uns Menschen spiegeln genau dieses Prinzip wider:

Du wachst morgens auf und hast einen Wunsch. Der Felsblock, der deine Wunschbegierde symbolisiert, wird erschaffen. Du beginnst als Sisyphus mit dem Hochstemmen des Felsblocks hinauf zur Bergkuppe. Der Weg, den du über den Tag hin bis nach oben zurücklegst, symbolisiert deine Wunschbefriedigung. Diese kann freudvoll oder leidvoll sein. Am Abend kommst du schließlich mit deinem Felsblock oben auf der Bergkuppe als Höhepunkt der Wunschbefriedigung an. Da du jedoch an die Schwere der „Wunschlast“ gebunden bist, wirst du zusammen mit ihr von der Schwerkraft aus den lichten Höhen wieder nach unten gezogen. Am nächsten Tag beginnt das Spiel von Neuem. Und zwar so lange, bis die Wunschbegierde ihre Anziehung auf dich verloren hat. Doch dann erkeimt bereits ein neuer Wunsch, und ein neuer Sisyphuskreislauf beginnt.

Dies ist die Kraft, die uns Menschen grenzenlose Anhäufung von materiellem Wachstum beschert. Mehr aber auch nicht.

Entwickle dich
Wachstum ist das Gegenteil von Sterben. Beim Sterben werden Schicht um Schicht, Blatt um Blatt entblättert – etwa wie bei einer Artischocke, die uns am Ende so ihr innerstes Herz offenbart. Zu Entblätterung kann man auch „Ent-wicklung“ sagen, da hierbei das innerste Wesen „aus-gewickelt“ wird. Auch das Wesen des Yoga ist eine „ent-wickelnde“ Kraft, die uns immerzu ermuntert, von all dem loszulassen, was wir nicht ewig sind. Lassen wir uns von dieser heiligen Fließkraft vollständig durchdringen, enthüllt sich eines Tages unser innerstes Gottwesen als unser „Sat-Chit-Ananda-Wesen“, das wir ewig sind.

Niemand vermag nunmehr vorherzusagen, wohin unsere Reise führt, denn alles fließt lebendig dahin. Im „F-luss“ strömt über den Klang „luss“ das „Lösen“, aber auch die „Lus-t“ und das „Luz“, das Licht, durch unser Wesen und verwandelt uns ganz zum Indus, womit im Sanskrit der „Fluss“ angesprochen wird. Jetzt sind wir „In-deus“, in Gott, gestorben.

Wenn Yoga auf Kalkül trifft
Nehmen wir einmal an, du bist Yogalehrerin oder Yogalehrer und gehst jetzt mit diesem Wissen und dieser Seelenerfahrung in die Welt hinein zu den Menschen, vielleicht sogar zu einem Unternehmen oder einer ähnlichen Einrichtung, weil du dort Yoga unterrichten willst. Du sagst: „Hey du, ich bring dir den Yoga. Aber dir wird dafür möglicherweise etwas weggenommen! Und das, was du bekommst, kannst du wahrscheinlich noch nicht mal sehen, weil es unsichtbar ist.“
Oder: „Hey Boss, du kriegst den Yoga, weil du willst, dass deine Mitarbeiter leistungsfähiger, belastbarer und weniger krank sind. Aber es könnte sein, dass sie durch den Yoga alle „sterben“ werden!“

Wärst du bereit, so offen darüber zu sprechen?  Jetzt stehst du möglicherweise vor einer schwierigen Zerreißprobe.

Bedenke aber: Wird der Yoga dem berechnenden Verstandeskalkül unterworfen – nach dem Motto: Mach Yoga für dies, mach Yoga für das, mach Yoga gegen dies, mach Yoga gegen das –, beginnt seine schrittweise Aushöhlung, bzw. seine Ausschlachtung nach Kriterien der Nutzen bringenden Verwertbarkeit. Man bedient sich hier der gewinnbringendsten magischen Mittel des Yoga und lässt sein eigentliches, ganz und gar unberechenbares Wesen links liegen. Aber man übersieht dabei leicht, dass man links auch sein Herz liegen lässt. Wärst du bereit, dein Herz einfach links liegen zu lassen?

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