Alles soll immer nur wachsen, so denkt ein Großteil der heutigen Menschen, und wickelt im Sinne dieses Leitbildes Schicht um Schicht, Hülle um Hülle, Mol-ekül um Mol-ekül zum dichten Haufen geronnener Materie – um sich, auf sich und über sich. Dafür nutzen wir Menschen unsere Gabe des Schöpfens und erschaffen uns spinnend unseren eigenen Mol-och, den wir mit allerlei Erfindungen und Anstrengungen zudem noch reichlich und gröblich düngen, und dem wir Opfer darbringen, damit das Wachstum sich immer auch noch beschleunigen möge. Auf diese Weise münden wir also schließlich ganz verpuppt in einem Kokon, als wächserne Puppe, als Wachs-figur sozusagen. Und das Leben, unser Wesen, unser himmlisches Wesen in der Tiefe oder Höhe unseres Innersten vermag sich darin kaum noch auszubilden und auszudrücken durch all die molligen, erdrückenden Schichten von gewachsenem Wachs hindurch. Außer vielleicht durch klagende, schwermütige Töne des Moll.
Um sich aus dieser belastenden Schwere zu erlösen, tönen und verkünden wir als Wachsfiguren aus unserem Kabinett, aus unseren wächsernen Waben und Geweben heraus – als ob wir nichts anderes kennen würden – andauernd und ohne Unterlass von neuem Wachstum, rufen hoffnungsvoll die Menschheit zu mehr davon auf, als ob darin das Allheilmittel zur Befreiung der Welt zu finden sei.
Dies ist jedoch der aussichtslose Gesang von Larven, die ihre Ent-larvung längst vergessen haben, und spiegelt das Ungleichgewicht von „Wachstum“ versus „Ent-wicklung“ in unserer Welt wider.
Doch da beide Impulse, sowohl Wachstum als auch Entwicklung, so gütlich in unser Wesen eingeboren sind, sehnen sie sich nach ihrem heiligen Gleichgewicht: Die eine, die wachsende, die weibliche der Kräfte, bringt uns hervor und erfüllt uns mit Form. Die andere, die entwickelnde, die männliche der Kräfte, entleert uns zurück in unser formloses atmisches Lebe- und Liebewesen. So atmet unser atmisches Wesen uns wachsend (auf-wickelnd) aus, und ent-wickelnd wieder ein.
Im Verlust der Harmonie dieser Kräfte entstehen die Wachstumsstörungen in unserer Welt, die sich als globales Krebsgeschehen, als Wucherung, als unkontrolliertes, ungleichgewichtiges Wachstum in und um uns herum so zahlreich Ausdruck verschaffen. Auch der Fluss des Atems ist ins Stocken geraten, da uns die innere Weisheit um ein langes, feines Einatmen, das einem Ausatmen folgt, längst verlorengegangen ist.
Doch wohin haben wir die Kräfte der Entwicklung verlagert, durch welche zauberische Volte hinwegverdrängt? Wir erschufen, ganz männlich, die Welt der Technik. Hier findet jetzt Entwicklung statt, die leider nicht die unsere ist, sondern nur die der Welt der Maschinen und Geräte. So haben wir unser heiliges Bedürfnis nach Entwicklung ausgelagert, einfach outgesourct, und eine schizoide Welt erschaffen. Während wir im Yoga an der Entwicklung, der Enthüllung unseres inneren himmlischen Wesens, an sat-chit-ananda, interessiert sind und innere Bewusstseinsarbeit am Feinen und Feinsten – am Feinstoff der Liebe – verrichten, arbeiten wir in der Welt der Technik ausschließlich an der kalkulierenden Beherrschung der Materie. Zwar mit ungeheuren, atemberaubenden Entwicklungen und Erfolgen, doch der Mensch bleibt grob, dumpf und unentwickelt, als bloßes Bedienpersonal, als unlebendige Wachsfigur, als ängstliche Larve mit Sprechkopf, daneben zurück.
„So suchen beide die Angstschwelle des Todes zu überwinden: der yogische Mensch, indem er sich in seinem Wesenskern als ewiges Lebe- und Liebewesen Gottes erkennt, und der technische Mensch, indem er mit technischen Hilfsmitteln und Apps danach trachtet, Unsterblichkeit zu erlangen.“
Beide, sowohl der yogische als auch der technische Mensch, trachten nach Verfeinerung, suchen die Entwicklung des Feinen. Aber was ist das Feine? Aus dem lateinischen Wortklang „finis“ in unsere Sprache geflossen, spricht es die „Grenze“, das „Ende“ an, das Ende alles Erschaffenen und damit den Tod des Endlichen, der das Tor zum Unendlichen offenbart. So suchen beide die Angstschwelle des Todes zu überwinden: der yogische Mensch, indem er sich in seinem Wesenskern als ewiges Lebe- und Liebewesen Gottes erkennt, und der technische Mensch, indem er mit technischen Hilfsmitteln und Apps danach trachtet, Unsterblichkeit zu erlangen.
Beide wollen ins-ge-heim den Himmel. Der eine erkennt soham – dass er nie davon getrennt war. Der andere konstruiert dafür ein Raumschiff, einen hamsa, einen Schwan, einen künstlichen allerdings. Und ihm schwant immerzu, dass er eines Tages „app-stürzen“ und wieder den Anziehungskräften der dichten Materie, die er nie überwunden hat, anheimfällt. So ist der letztere Weg zum Scheitern verurteilt und produziert Ströme von Wehklagen, die in den Klagegesängen des Moll aus dem Inneren der wächsernen Kokons dringen.
Wird jedoch unsere innere Flamme am Docht der yogischen Andacht entzündet, züngelt aus dem Wachs sogleich die Flamme des Lebens und trägt das Licht der heiligen Transformation in die Welt.