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Wie verträgt sich eigentlich Yoga mit dem Prinzip des Überzeugens? Fast in jeder Lebenslage kann man Überzeugungen und überzeugten Menschen begegnen: Es gibt überzeugte Yogis, überzeugte Christen, überzeugte Moslems, überzeugte Buddhisten, überzeugte Atheisten, überzeugte Politiker, überzeugte Gewerkschaftler, überzeugte Wissenschaftler, überzeugte Anhänger von … usw. Fast jeder hat schon einmal den Ausspruch getätigt: „Ich bin überzeugt davon …“, oder: „Das hat mich überzeugt …“, oder: „Ich konnte ihn oder sie davon überzeugen …“ Ich jongliere hier mit einem Wort, das in unserer Zeit positiv belegt ist. Regierungsvertreter und Parteimitglieder lieben es geradezu und verwenden es auffallend häufig. „Überzeugung“ scheint also ein durch und durch politisch korrektes Wort zu sein.

Mein Sprachempfinden vermittelt mir jedoch ein anderes Gefühl. Im Vorgang der „Über-zeugung“ weht nämlich der kalte Schauer des „Zuviel“, des „Übermäßigen“ und „Gewalt-samen“ herauf. Lassen wir uns von etwas überzeugen, dringt dieser „Same der Gewalt“ in uns ein, sprießt aus und legt so seine fast unsichtbare, fremde Form wie einen Schleier, wie eine zweite Haut über den Überzeugten.

Überzeugung ist also ein Akt, bei dem ein fremder Same in Form von Gedanken, Emotionen, Bildern,  Ansichten, Anleitungen, Bestimmungen, Weltanschauungen etc. durch einen mehr oder weniger subtilen Übergriff in einen anderen Organismus eingebracht wird. Überzeugung ist also Übergriff und damit Ausübung von Gewalt.

Etymologisch leitet sich das Wort „zeugen“ von „ziehen“ ab. So bedeutet überzeugen auch „überziehen“, oder etwas „mit einer fremden Haltung überziehen“.

Beim Thema Haltung bin ich mitten im Feld des Yoga angelangt. Die meisten lernen den Yoga über das Ausüben von Yogahaltungen, der Yoga-Asanas, kennen. Auch hier wird ein Mensch aufgefordert, eine Haltung, in diesem Fall eine Körperhaltung, einzunehmen, die zunächst meist fremd und ungewohnt anmutet.

Im Kontext des oben Gesagten offenbart sich an dieser Stelle, ob eine fremde Haltung einfach übernommen und einer „überzeugenden Überstülpung“ stattgegeben wird, die als subtile Gewaltausübung im schlimmsten Fall zu Verletzungen führen kann. Oder ob zuvor ein würdiger Raum der Selbsterfahrung geschaffen wurde, in dem jeder in Freiheit zu seiner „eigenen Haltung“ finden darf. So empfinde ich ein Asana als eine archetypische Gebärdensprache, der unterschiedliche Bewusstseinspotenziale innewohnen, die sich als bildgestaltende Form in der Haltung ausdrücken. Durch Kontemplation auf dieses archetypische Bewusstseinsfeld entsteht eine fließende Bewusstseinsverbindung, die ein ganzes Spektrum an Erfahrungen ermöglicht. Erst das Durchleben solcher Erfahrungen vermag im Menschen ein eigenes Bewusstsein heranzubilden. Dieses Bewusstsein ist die Kraft, die den Menschen seine ureigene Haltung in den Strömungen und Bewegungen des Lebens einnehmen lässt, und sein Immunsystem auf körperlicher, emotionaler und mentaler Ebene grundlegend nährt und versorgt.

Kategorien von „richtig“ und „falsch“ gibt es für diese Kraft nicht. „Richtig“ und „falsch“ sind Kräfte, die in die Kampfwelt der Dualität gehören. In der Dualität wird immer das eine vom anderen ausgeschlossen. Es geht um Sieg oder Niederlage, um dominieren, unterwerfen und überstülpen – um „überzeugen“ und „sich überzeugen lassen“.

Der Geist des Yoga findet in der Welt der Dualität keine wirkliche Heimat. Er lustwandelt zunächst lieber in den Gärten der Polarität, der natürlich gewachsenen Pole. Aber allein im schwingenden Einklang der Balance, also im vollkommenen Gleichgewichte der Pole, offenbart er seinen königlichen Palast. Darin entblättert sich Kundalini-Shakti, die ureigene, von fremden Quellen unabhängige Kraft, und schreitet würdevoll ihrer mystischen Hochzeit entgegen.

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