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WeisheitYoga

Der kosmische Freier

Frieden und Freiheit entstehen dann, wenn wir Menschen die Fesseln der Diktatur, in der wir möglicherweise noch leben, hinter uns lassen. Die Überwindung von diktatorischen Kräften erfordert im ersten Schritt keine politischen Handlungen, keinen äußeren Widerstand oder Kampf, sondern – viel schwieriger – kontemplative Einkehr und Innenschau. Denn der größte und mächtigste aller Diktatoren lebt ganz nah und intim in jedem von uns – als Herrscher des mentalen und denkenden Reiches, als unser Verstand.

Dieser wird in den yogischen Überlieferungen Kama-Manas genannt. Ihm obliegt im Grunde die Aufgabe, sowohl unsere Sinneseindrücke als auch die unzählig aufsteigenden Eindrücke aus Vergangenheit und Erinnerung zu koordinieren und diese zur weiteren Verarbeitung an das ihm übergeordnete Buddhi-Manas weiterzuleiten. Buddhi-Manas ist unser höheres, aus göttlicher Intuition gespeistes Erkenntnisorgan, das uns eine tiefere, ganzheitliche Sicht in die Zusammenhänge der Lebensprozesse ermöglicht. Buddhi-Manas befähigt uns, über den Tellerrand materieller Bedürftigkeit „hinauszudenken“. In ihm ist der geheimnisvolle Genius der Weisheit verborgen, sich selbst und den gesamten Gedankenkomplex letztendlich zu überwinden. Ist Buddhi-Manas wenig entwickelt oder der Zugang zu ihm blockiert oder verunreinigt, beginnt unser mit Sinneseindrücken und Begehrlichkeiten beschäftigter Verstand, sich mehr und mehr um sich selbst zu drehen. So nimmt das Karussell der ewig kreisenden Gedanken Fahrt auf. Durch diese schwindelerregenden Bewegungen webt der denkende Verstand mit seiner ich-süchtigen „Denkerei“ und seiner Neigung, sich mit Eindrücken, Gedanken und Objekten zu identifizieren, die Schleier der Welt (Maya) immerzu dichter. Denn unentwegtes „Denken“ erschafft unentwegt „Dinge“, was in englischer Ausdrucksweise noch deutlicher wird: He „thinks“ and creates „things“.

Mit diesen aus ungezügelter Gedankenflut erschaffenen Dingen erbauen wir endlose Staudämme materieller Dichte und sind im Begriff, sowohl an der Flut der endlosen Gedankenketten als auch an der Flut der materiellen Objekte zu ersticken. Auf diese Weise überlagern die übermächtigen Mechanismen des Verstandes unsere lichte, natürliche Gabe reiner, atmischer Wesenserfahrung, die sich, erfüllt von non-dualer Leichtigkeit, allein aus der Stille puren Seins offenbart, und den Yogi mit dem großen Mysterium verbindet, wer wir in unserem Wesen wirklich sind.

„Verstehen“ bedeutete im Altdeutschen ursprünglich „davor-stehen“. Im alten Sprachtonus des Wortes schwingt noch die Erkenntnis vom spaltenden Charakter des „verstehenden Verstandes“, der vom Wesen der einen Wirklichkeit immerzu getrennt bleiben muss. Er muss, kraft seiner Natur, „davor-stehen“ und in ohnmächtiger Halbstärke in der Zweiteilung der Dualität verharren. Und weil ihm die verschmelzende Einung mit dem Sein, und damit die ganze Stärke, verwehrt bleibt, übernimmt er in seinem Reich als „Versteher“, als „Vorsteher“ oder „Vorstand“ sozusagen, ebendiesen Part: Er wird zum „Boss“ und spielt fortan seine „boss-hafte“, diktatorische Rolle in der Welt der Dualität.

Vom Thron seines Reiches herab diktiert und erzeugt dieser persönliche Diktator fortan die mentalen Bewegungen in uns und hält uns mit ununterbrochenen Gedankenketten aus Ängsten und Begierden als seine Sklaven in den Niederungen und Schluchten des
„Men-tals“ gefangen. Doch in der Nacht, wenn es still ist und wir für kurze Zeit in den traumlosen Tiefschlaf hinübergleiten, gelingt es uns ganz anstrengungslos, die Ketten mentaler Gefangenschaft vorübergehend abzustreifen. Im traumlosen Tiefschlaf endet das Denken, und das Menschenwesen betritt sogleich einen Ort des Friedens und der Freiheit, zu dem der große Diktator keinen Zutritt hat. Denn an diesem Ort ist das Denken nicht möglich. Und wo nicht gedacht wird, offenbart sich die unendliche Wonne friedlichen Seins. Dies ist das Geheimnis eines erholsamen und tiefen Schlafes, aber auch, im weiteren Verlauf, die geheimnisvolle Türschwelle zur Offenbarung der Essenz des Yoga (Turiya).

Patanjali, einer der Altmeister des überlieferten Yoga, veranschaulicht dies in einem einfachen, unter Yogis sehr bekannten Satz: „yogash chitta vrtti nirodhah“ – „Yoga ist, wenn die Gedankenbewegungen zur Ruhe kommen.“ Dann, so fährt Patanjali fort, „ruht der Weise in seinem wahren Wesen.“ Dies erinnert uns daran, dass von all den Asanas (Haltungen), die der Yogi über lange Zeit übt, der „Still-Stand“ das Königsasana ist. Im „Still-Stand“ verlieren die Fahrgeschäfte und Karusselle mentaler Begehrlichkeiten ihre Anziehungskraft. Und die Welt (Maya), die „Werden schafft“, die „Werte schafft“, die „Wirt-schaft“ also, offenbart ihre kulissenhafte Natur auf der unbewegten Leinwand des unendlichen, unfassbaren Seins (Brahman). Durch diese Offenbarung verliert der bisherige „Primus“ der mentalen Diktatur („Du musst was werden“, oder „Die Wirtschaft muss wachsen“) seinen existenziellen Stellenwert und damit sein erpresserisches, noterzeugendes Potenzial. Aus den Tiefen der ewigen Weisheit erstrahlt nun der wirkliche und einzige „Primus“ als erstes und heiliges Prinzip, das im Sanskrit im Klang von Preman schwingt – das ewige Prinzip bedingungslosen Liebens. Preman (Liebe) und Brahman (das Absolute) klingen deshalb ähnlich, weil sie ungetrennt ein und dasselbe Bewusstsein ausstrahlen.

So offenbart sich, wenn der Yogi das innere Asana des „Still-Stands“ meistert, Brahman alias Preman als „kosmischer Freier“, der alle Wesen bedingungslos „durchliebt“ (Priya) und dadurch befreit (Moksha). Im vereinenden Liebesakt von Priya vermögen wir das „Eine-ohne-ein-Zweites“ zu erkennen, und am Höhepunkt die Essenz von Frieden und Freiheit zu erfahren als das EINE Lebe- und Liebewesen (Brahman), das wir in Wirklichkeit sind.

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