Irgendwo in Indien. Ein Mann geht im Zwielicht der Abenddämmerung seines Weges. Und dann plötzlich, unmittelbar vor ihm, eine Schlange. „Eine Giftschlange“, schießt es ihm durch den Kopf. Gleichzeitig gefriert ihm das Blut in den Adern. Vor Angst, vor Schreck, der ihn lähmt. Jetzt bloß nicht bewegen. Oder etwa doch? Wegrennen, fliehen? Was aber, wenn es eine giftige Kobra ist und diese plötzlich nach vorne schnellt? Ein Biss genügt, und es ist aus mit ihm. Ein Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht überkommt ihn. Dabei hatte er noch so viel vor in seinem Leben. Ziele, die es zu erreichen galt. Wünsche, die erfüllt werden mochten. Sein Herz pocht schwer und mühselig. Schweißperlen tropfen von seiner Stirn. Dann fasst er einen Entschluss. Er wird sein kostbares Leben nicht ohne Kampf aufgeben. Ohne sich zu bewegen, sucht er mit seinen Augen in der hereinbrechenden Dunkelheit fieberhaft die unmittelbare Umgebung ab. Es muss doch einen Gegenstand geben, den er als Waffe benutzen könnte. Und in der Tat nimmt er seitlich, nicht weit von ihm entfernt, die Schemen eines stattlichen Steinbrockens wahr. Langsam, ganz langsam, Millimeter für Millimeter, lässt er sich in die Knie sinken, den Blick unablässig auf die bedrohliche Schlange vor ihm gerichtet. Mit dem sich unmerklich ausstreckenden rechten Arm greift er vorsichtig nach dem Stein, umfasst ihn entschlossen mit der Hand und schlägt blitzschnell zu. Ein dumpfes Schlaggeräusch erklingt, und die Schlange liegt leblos vor ihm. Was für ein Gefühl! Triumph, Erleichterung. Er hat sie besiegt!
Er beschließt, die getötete Schlange als Trophäe mitzunehmen, und allen von seiner Heldentat zu erzählen. Vielleicht lässt sich sogar noch ein wenig Geld damit verdienen, denkt er beschwingt, während er den leblosen Kadaver näher untersucht und zu seinem Entsetzen feststellt, dass es gar keine Schlange ist, sondern ein Seil, das er die ganze Zeit über irrtümlich mit einer Schlange verwechselte, wegen der hereinbrechenden Dunkelheit und anderer seltsamer Fantasien, die sich in seinem Geiste abspielten, und ein wahres Horrorszenario auf ein einfaches Seil projizierten, das dort jemand auf dem Wege liegengelassen haben musste.
Das Gleichnis von der Schlange und dem Seil ist uns von Adi Shankara, dem großen Advaita-Meister überliefert, der vor ca. 1200 Jahren in Indien lebte. Es veranschaulicht auf einfache Art und Weise, wie unser Geist funktioniert: Mit jedem Gedanken werfen wir einen Projektor an, projizieren ein Spiel aus Licht und Schatten (Schlange) auf eine unsichtbare Leinwand (Seil) und erschaffen bzw. schöpfen dadurch unsere Welt als unseren persönlichen Schöpfungstraum bzw. -albtraum. Kommen die Gedanken zum Stillstand, endet auch unser Schöpfungswerk. Dann ruht der weise Mensch in seinem wahren Wesen (Atman). Sein Herz pulsiert nun liebend aus dem puren Erleben stillen Seins in einfacher Vollkommenheit. Genaugenommen können wir erst jetzt von Yoga, also von Wesensverbundenheit, sprechen. Lassen wir uns hingegen von unserem selbst erzeugten Spiel aus Licht und Schatten ergreifen oder greifen wir danach, verlieren wir die Gründung im stillen Sein des Lebens und fallen der Welt des Werdens anheim. Die Welt des Werdens ist eine Welt voller Erregung und Erregern (Vrtti). Es ist die Welt des schönen oder hässlichen Scheins (Maya). Alles entsteht, wächst und vergeht wieder. Nichts bleibt, alles ist in mühlradartigen, samsarischen Bewegungen von auf und ab gefangen. Die alten Griechen bezeichneten diese Kraft als titanisch. Im Mahlstrom der titanischen Welt gibt es keine wirkliche Sicherheit, keine wirkliche Freude, kein wirkliches Wissen, kein wirkliches Glück, keine wirkliche Freiheit, und am Ende mündet alles im Leiden. Die Suche nach Wahrheit in der Welt des Werdens ist eine vergebliche, süchtig machende, weil nie endende Suche, da hier alles von subjektiven und relativen Kräften gebildet ist, die Wahrheit in ihrer Absolutheit nicht abzubilden vermögen. Solange wir hier Gegenteiliges annehmen, können wir uns getrost als verirrte Narren bezeichnen, die alle zusammen in einem titanischen Käfig voller Narren gefangen sind.
Vom titanischen Virus infiziert, schöpft auch der empirisch „wissen-schaft-liche“ Geist des Menschen seinen geistig blinden Schöpfungstraum. In spiritueller Umnachtung erträumt er selbst unentwegt seine Traumobjekte, um diese dann „wissen-schaftlich“ zu untersuchen. Das dabei „erschaffene“ Wissen – und wir vermögen unendlich viel davon zu erschaffen – präsentieren wir uns schließlich gegenseitig mit großer Bedeutung und Wichtigkeit und verleihen ihm das zeremonielle Gütesiegel „objektiver“ Wahrheit. In letzter Zeit ist bei diesen Prozessen nicht nur eine Zunahme an geistiger Blindheit zu verzeichnen, sondern es wird von ganzen Berufsgilden immer leichtfertiger ein absoluter Wahrheitsanspruch auf wissenschaftliche Ergebnisse proklamiert, die immer mehr den Charakter des religiösen Fundamentalismus in sich tragen und Widersprüche nicht mehr dulden.
Vielleicht ist es bald an der Zeit, eine neue Epoche der Aufklärung einzuleiten?
Spirituell betrachtet ist der Glaube an die Verstandeslogik unseres denkenden Ichs nur eines von zahlreichen Glaubensbekenntnissen bzw. eine von vielen Bewusstseinspositionen im Spiegelkabinett der Maya (projizierte Welt), die unser Wesen (Atman), das wir wirklich sind, mit dem Schleier der Unwissenheit (Avidya) verhüllen.
Dies ist auch der Grund, warum keiner empirischen Wissenschaft jemals wirklich der Durchbruch gelungen ist im Ansinnen, dass endlich alles gut werden möge, die Weltenformel, das Allheilmittel gefunden werde, um uns Menschen von Not und Leiden zu erlösen. Folgen wir dieser falschen Fährte, bleibt uns nichts als ein bisschen Trost in der Hoffnung, dass irgendein Wissenschaftler schon noch das „richtige“ Mittel finden wird. Deshalb dürfen sich in Zeiten der Not die wissenschaftlichen „Trost-spender“ so großer Beliebtheit erfreuen, darf in Deutschland sinnbildlich ein gewisser Herr „Drost-en“ durch virologische Künste zum Hohepriester aufsteigen, wofür er gewiss einen „Drost-preis“ verdienen wird.
Die spirituellen Künste des initiatischen Yoga hingegen geben sich weder mit Trostspenden noch mit Trostpreisen zufrieden, da sie wissen, dass sich wirklicher Frieden allein jenseits vergänglicher tröstlicher Erfahrung offenbart: Nämlich im reinen Gewahrsein allumfassenden Bewusstseins hinter den Trostobjekten als „Trust“, als tiefes, bedingungsloses Vertrauen in das Absolute (Brahman), was unsere denkende Wahrnehmung übersteigt. Dieses ist nicht mit wissenschaftlicher Logik zu ermessen, sondern kann erst erkannt werden, wenn es uns wie Schlangenschuppenhaut von den Augen fällt, dass das, was uns als Erreger erregt, die Schlange ist, die wir unbewusst auf das stille Seil unserer universellen „Seelenleinwand“ (Atman) projizieren.