Überall um uns herum brechen alte Gewissheiten zusammen. Fabriken, die einst den Stolz vieler ausmachten, drohen zu Industrieruinen zu werden. Parteien, denen unsere Eltern vertrauten, verlieren ihre Mitte, Währungen ihre Stabilität. Künstliche Intelligenz stellt infrage, was menschlich ist, was schöpferisch ist. Kriege kehren zurück nach Europa, und die Jugend blickt ohne Hoffnung in die Zukunft. Wir alle spüren es: Etwas geht zu Ende. Doch was, wenn dieses Ende nicht der letzte Akt ist, sondern eine Verwandlung? Was, wenn der Schmerz, den wir fühlen, nicht nur der des Sterbens ist, sondern der einer neuen Geburt?
Die alten Seher (Rshis) Indiens erkannten in der Tiefe ihrer Wesensschau eine dreifache Wahrheit, die sie Trimurti nannten – die drei Gesichter des einen, ewigen Rhythmus. Brahma, der aus der Leere heraus die Welten gebiert. Vishnu, der das Geborene in liebevoller Umarmung hält. Und Shiva, der große Befreier, der die erstarrten Formen wieder in den Tanz der Möglichkeiten zurückführt. Nicht als drei getrennte Götter erscheinen sie, sondern als der eine Atemzug der Existenz selbst: das Ausatmen Brahmas, das die Welten gebiert; das Atemhalten Vishnus, das sie bewahrt; das Einatmen Shivas, das sie wieder in die Quelle zurückführt.
In der Samkhya-Philosophie des Yoga offenbart sich dieselbe Weisheit durch die drei Gunas – jene Grundqualitäten, aus deren Tanz die gesamte manifeste Welt hervorgeht. Rajas, die feurige Kraft der Bewegung und Leidenschaft, ist der Atem Brahmas selbst. Es ist jener heilige Impuls, der aus der Stille heraus ruft: „Es werde!” Ohne Rajas keine Morgendämmerung, kein erster Herzschlag, kein schöpferischer Gedanke. Sattva, die kristallene Qualität der Harmonie und Klarheit, durchströmt Vishnus bewahrende Umarmung. Es ist das goldene Gleichgewicht, das den Tag in seiner Fülle hält, die Weisheit, die den Dharma hütet. In unserer Yogapraxis streben wir nach dieser sattvischen Qualität, nach jenem klaren Zustand des Geistes, in dem sich die Wahrheit spiegelt wie der Mond im stillen See. Und Tamas, so oft missverstanden und gefürchtet, ist Shivas dunkle Gnade. Es ist nicht die Finsternis der Ignoranz allein, sondern jene fruchtbare Dunkelheit des Mutterschoßes, in der neues Leben keimt. Tamas ist die heilige Trägheit, die den rastlosen Geist zur Ruhe bettet, die Auflösung, die Raum für Erneuerung schafft. Ohne Tamas würde das Universum in rastloser Aktivität verbrennen.
Dieser Rhythmus durchpulst alles, vom winzigsten Atom, das in Nanosekunden zwischen Sein und Nichtsein oszilliert, bis zu den gewaltigen Galaxien, die in Äonen langen Spiraltänzen verschmelzen und sich neu gebären. In jeder Zelle unseres Körpers vollzieht sich diese heilige Dreiheit: Mitose, Metabolismus, Apoptose – Geburt, Leben, programmierter Tod als Dienst am größeren Ganzen. Wir sind nicht nur Zeugen dieses kosmischen Tanzes, wir sind seine Erscheinung gewordene Verkörperung.
Betrachten wir die Generationenfolge der Menschen, so offenbart sich das gleiche Muster. Die Gründerväter und -mütter, seien es jene von Familiendynastien oder ganzen Nationen, tragen das Feuer Brahmas in sich. Aus Schutt und Asche, aus Hunger und Not erschaffen sie mit bloßen Händen neue Welten. Ihre Kinder, genährt von dieser Schöpferkraft, werden zu Bewahrern, zu Hütern der Flamme. Sie bauen aus, verfeinern, bringen zur Blüte, was die Väter und Mütter säten. Doch die Enkel, geboren in die Fülle, kennen weder den Hunger noch den heiligen Zorn der Schöpfung. In ihnen muss deshalb Shiva, der Transformator, erwachen. Was in den Augen der Bewahrer wie Zerstörung erscheint, ist in Wahrheit die notwendige Auflösung erstarrter Formen.
Deutschland tanzt gegenwärtig diesen Shiva-Tanz. Die Kathedralen der Industrie befinden sich im Niedergang, die Gewissheiten von gestern werden zu Staub. Drei Generationen nach dem großen Krieg und nach dem phönixgleichen Aufstieg aus der Asche, kehrt – metaphorisch gesprochen – die „Asche” zurück. Doch dies ist kein Grund zur Verzweiflung, sondern zur ehrfürchtigen Teilnahme am größten Mysterium der Schöpfung überhaupt: der ewigen Wandlung.
Nataraja, Shiva als kosmischer Tänzer, lehrt uns die Kunst dieser Teilnahme. Mit der archaischen Trommel in der einen Hand schlägt er den Rhythmus der Schöpfung, mit dem Feuer in der anderen verzehrt er das Verbrauchte. Sein Fuß tritt auf den Dämon der Unwissenheit (Avidya), nicht aus Grausamkeit, sondern als Befreiung. Und sein erhobener Fuß zeigt den Weg: die Transzendenz durch den Tanz selbst. Im Zentrum seines wirbelnden Tanzes herrscht vollkommene Stille – das Auge des Seins im Sturm der Bewegungen, das unbewegt Bewegende.
Die Lösung, nach der so viele Menschen so verzweifelt suchen, liegt nicht im Jammern um das Verlorene und nicht im Widerstand gegen den Wandel, sondern in der bewussten Teilnahme an ihm. „Om Namah Shivaya” – als Verneigung vor der transformierenden Kraft – wird zum Mantra unserer Epoche. Es ist die Anerkennung, dass jedes Ende einen Anfang gebiert, dass jede Zerstörung die Hebamme neuer Schöpfung ist.
Wir sind nicht die Opfer dieser Zeit der Auflösung. Wir sind ihre Priester, ihre Tänzer, ihre Geburtshelfer. In uns selbst tragen wir alle drei Kräfte: den schöpferischen Impuls Brahmas, die bewahrende Liebe Vishnus und die transformierende Weisheit Shivas. Die Kunst besteht darin, zu erkennen, welche Kraft die Stunde ruft, und ihr ohne Widerstand zu folgen.
Wenn die Dämmerung der alten Welt zur Nacht wird, ist dies nicht das Ende der Geschichte, sondern die heilige Stunde vor der Morgendämmerung. Im tamasischen Schoß der Zerstörung ruht bereits der rajasische Samen des Neuen, der durch sattvische Pflege zur Blüte kommen wird. Dies ist die ewige Verheißung des kosmischen Tanzes: Aus jedem Winter erwächst ein Frühling, aus jeder Asche ein Phönix, aus jedem Tod eine Auferstehung. Wir müssen nur den Mut finden, hingebungsvoll mitzutanzen im ewigen Reigen der Wandlung.



