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Der Mensch ist ein Spekulant. Er spekuliert die Formen und Dinge der Welt. „Spekulieren“ bedeutet „ins Auge fassen“, „für möglich halten“. „Reine Spekulation“ sagen wir, wenn etwas noch nicht wirklich ist und in der Buchhaltung der Menschheit, in den privaten wie öffentlichen Aktenordnern oder Datenbanken des Bewiesenen, der sogenannten Realität, noch keinen Eintrag, noch keinen Wahrheitsvermerk erhalten hat, also noch nicht erschaffen wurde. Spekulation ist ein Instrument unserer Schöpferkraft. Jedes Schöpfungswerk beginnt mit einer Spekulation, einer Möglichkeit, die wir ins Auge fassen, einer geistigen Schau, einer Vision, die traumähnlich an einer Art Gewebe webt. Ein „Schöpfungstraumgewebe“ sozusagen, das wir, wenn es irgendwann einmal dicht genug gewoben ist, als Realität bezeichnen, weil es dann fassbar, ja, anfassbar geworden ist. Erst jetzt kann unser Werk buchhalterisch verbucht und erzählt werden, im Buch des Lebens von dir und mir.

Gedanken und Worte sind es, vermittels derer wir unseren Schöpfungstraum weben. Am Spinnrad der Schöpfung spinnen wir die notwendigen Wortfäden, Gedankenfäden und Leitfäden dafür. Dann entstehen aus diesen Fäden die ersten Wortfetzen, die sich, aneinandergereiht, nach und nach zu einem Teppich verknüpfen und einen Klangteppich erschaffen, in dem die ersten Muster, Ornamente und Formen unserer Schöpfung zu erkennen sind.

Durch Klänge oder Worte erschaffen wir also unsere Geschöpfe. Deshalb ist bekanntlich am Anfang aller Dinge immer das Wort, das germanisch „wurda“ oder indogermanisch „werdha“ ausgesprochen wurde, und unüberhörbar auf das „Werdende“ bzw. „Gewordene“ hindeutet, das dem Wort als Schöpfungsinstrument inhärent ist.

So ist aus anfänglicher Spekulation, aus einem unsichtbaren Hirngespinst heraus, ein reales Schöpfungsgewebe geworden, oder ein „Spektakel“, das als solches zum „Speculum“, zum „Gesehenen“, zum Sichtbaren wurde. Das lateinische Wort „speculum“ bildet hierbei den Boden für das deutsche Wort „Spiegelung“. Das bedeutet in der Konsequenz, dass alles von uns Gesehene eine Spiegelung unserer eigenen Schöpfungsarbeit ist. Und so kommt es, dass wir, wenn wir in die Welt hineinschauen, immer nur spiegelbildlich im Buch unseres eigenen Lebens lesen.

Wenn dein Dichtwerk freudvoll ist, verkündest du voller Stolz: Das bin ich gewesen. Wenn es leidvoll ist, klagst du voller Verbitterung: Das bist du gewesen.

Das Buch des Lebens: Du selbst bist der Schöpfer, also der Dichter und Denker, der dieses Buch geschrieben hat. Wenn dein Dichtwerk freudvoll ist, verkündest du voller Stolz: Das bin ich gewesen. Wenn es leidvoll ist, klagst du voller Verbitterung: Das bist du gewesen. Du dichtest unentwegt an deinem Buch, schreibst an deinen gesammelten Werken Kapitel um Kapitel, Vers um Vers. Du schreitest voran und hinterlässt mit deinen „Fersen“ als Dichtkünstler deine Spuren in Strophen und „Kata-strophen“ auf deinem Weg durch dein Schöpfungsgedicht.

„Ich schaue in die Welt und sehe immer nur mich und meine Spuren“. Dieses zu erkennen und anzunehmen, ist des Menschen höchste Kunst und Bürde zugleich.

Nimm alles, was du in deinem äußeren Spektakel siehst und wahrnimmst, was dich fasziniert und beschäftigt, was dich gefangen nimmt, fesselt und woran du dich festhakst und Widerstände verspürst, nimm all dies nach innen und betrachte es ruhig im Land der Stille. Zieh dich zurück in dieses kostbare Land. Der Yoga und seine Weisheit werden dir den Weg dorthin weisen. Nimm Platz im Land der Stille und lies sorgfältig im Buch deines Lebens. Es werden freudvolle und spannende Kapitel darin zu finden sein. Aber auch zutiefst traurige und erschütternde Abschnitte sowie Passagen von großer Langeweile und abgrundtiefer Abscheulichkeit.

Diese zu betrachten und als eigene Produkte, als eigene Geschöpfe anzunehmen, ist ungeheuer schwer, da wir fast alle noch das „Kla-Gen“ in uns tragen: Wir sind gewohnt, das Unangenehme von uns zu weisen. Wir sind gewohnt, zu beklagen und anzuklagen. Wir sind gewohnt, Schuldige für unseren Schmerz zu suchen. Doch an allen unseren Geschichten haben wir selbst am Spinnrad der Schöpfung mitgesponnen und mitgewoben. Erkenne den Weber in dir, der unentwegt an seinem Traumgewebe webt. Schaue die Kräfte, die du in deinen Webteppich eingeflochten hast – wo auch immer und zu Zeiten, die sich vielleicht längst deinem Oberflächenbewusstsein entziehen. Lass uns in der Tiefe die Gedanken und Gefühle betrachten, mit denen wir unsere Schöpfungswerke geknüpft haben: Sind es tamasige – dunkle, dumpfe und destruktive – Kräfte, die unsere Gedankengefühle prägen? Sind rajasige Kräfte, Kräfte voller Leidenschaft, Unruhe und egoistischer Wunschbegierden am Werk? Oder dürfen sattvige Kräfte, sprich reine, lichtvolle, liebende, anhaftungs- und selbstlose Kräfte und Leitfäden an unserem Schöpfungstraum mitweben?

Kehr ein ins Land der Stille und erkenne den eigenmächtigen Traumweber in dir, der sich so sehr in sein Traumgewebe verstrickt hat. Im Land der Stille lernen wir auf wundersame Weise die Geschichten im Buch des Lebens – die lichten wie die dunklen – zu liebkosen. Denn erst im „Kos-en“, im „liebenden Küss-en“, vermögen wir all unser Erschaffenes, das freudvolle wie das leidvolle, anzunehmen. Im „Lieb-kosen“ vermögen wir die „Kaus-alität“, die „Causa“, die Ursache alles Gewordenen und das daraus abgeleitete Recht oder Unrecht, aufzulösen.

Nun ist der Mensch so frei, dass sich ihm der „all-einige“ und ewige Träumer, der „liebende Weltenträumer“, offenbart. Er ist es, der sowohl uns als auch durch uns träumt und webt und spinnt – wenn wir es nur zulassen. Sei still und lass dich träumen. Sei still und lass dich weben. Sei still und lass dich spinnen

„Ich hätte es mir im Leben nicht träumen lassen“, sagen wir manchmal im Deutschen so treffend, wenn uns etwas überrascht, womit wir nicht gerechnet haben. Lassen wir also von der Illusion, selbst der Träumer, selbst der Handelnde zu sein. So gleiten wir einfach in die Stille und lassen uns voller Vertrauen von Gott, dem Lebe- und Liebewesen in uns, träumend weben.

Und wenn du dann wieder einmal im Buch des Lebens liest, könnte es geschehen, dass alle Seiten plötzlich leer sind. Und dennoch ganz erfüllt.

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